Die Träume wurden mit den Eltern begraben

„Wie soll ich sonst überleben?“, antwortet sie auf die Frage, warum sie diesen gefährlichen Job ausübt. Dann fügt sie fast stolz hinzu: „Wenigstens haben meine Geschwister etwas zu essen und können zur Schule gehen, weil ich hier arbeite.“

Durch die rasche Ausbreitung von HIV/Aids entstehen in Ruanda jedes Jahr Tausende neuer Familien von Aids-Waisen. Vier von fünf Todesfällen in Ruanda sind durch Aids verursacht, schätzt
Gesundheitsminister Hesekiel Ruabuhihi. Damit gehört sein Land zu den Top-12 der am meisten betroffenen Länder Afrikas.

Wenn die Eltern sterben, müssen die hinterbliebenen Kinder selbst Geld verdienen, um das Überleben der Familie zu sichern. Essen, Miete und Schulgeld wollen bezahlt sein. Eine staatliche Absicherung gibt es nicht. Ruandas Wirtschaft scheint sich zwar relativ schnell von den Zerstörungen des Krieges zu erholen – doch für mehrere Hunderttausend Waisen in Ruanda ist das Leben ein harter Kampf ums tägliche Überleben.

„Für ein Mädchen ist es enorm schwer, einen regulären Job zu finden“, sagt auch Claudine, 22, die von den etwa 15 Mädchen des Bordells als eine Art Sprecherin angesehen wird. „Früher ging ich zur Schule, und mir das bezahlt wurde. Diese Person ist aber leider gestorben, und meine Eltern waren zu arm und krank, um mir zu helfen. Als auch meine Eltern starben, waren meine Verwandten nicht in der Lage, für uns zu sorgen“, sagt sie. Claudine lernte damals eine andere Waise kennen, die ebenfalls für ihre Geschwister zu sorgen hatte und die ihr erzählte, wie man „auf der Straße“ gutes Geld verdienen könne.

„Jetzt kann ich meinen Brüdern und Schwestern den Schulbesuch bezahlen. Ich bin nicht glücklich über diese Arbeit und dieses Leben, aber wenigstens werden meine Geschwister eines Tages die Möglichkeit haben, auf ehrliche und anständige Weise Geld zu verdienen.“

Jedes der Mädchen hat wie Claudine eine eigene Geschichte, die eine tragische Abwärtsspirale in Gang gesetzt hat. Eine junge Prostituierte hatte zuvor als Hausmädchen bei drei verschiedenen
Familien gearbeitet, ohne dafür bezahlt zu werden. Ein anderes Mädchen war nach dem Völkermord das einzig überlebende Familienmitglied und versuchte verzweifelt, allein das Stück Land der Familie zu bewirtschaften. Geringe Ernten und mangelndes Wissen ließen diesen Versuch jedoch scheitern, so dass das damals zehnjährige Mädchen schließlich in die Stadt ging, um dort Arbeit zu finden.

Glücklich schätzen sich diese alleinstehenden Mädchen, wenn sie in einer Woche 20 Dollar durch ihre Arbeit als Prostituierte verdienen. Oft ist es aber weit weniger, und das Geld reicht gerade mal fürs Essen. Sie berichten von Schlägen und Demütigungen, von Krankheiten – und von der ständigen Angst vor Aids.

Obwohl die Mädchen ihre Arbeit eigentlich nur mit Kondomen tun wollen, hat fast jedes Mädchen bereits mindestens ein Kind bekommen. Sie haben nicht genug Durchsetzungsvermögen, um von ihren Kunden Kondome zu fordern.

Alle träumen von einem anderen Leben.

Geschlechtskrankheiten bringen sie nur tiefer in den Teufelskreis von Verzweiflung und Abhängigkeit. Claudine zum Beispiel war in den anderthalb Jahren, die sie im Bordell arbeitet, zwei Mal krank und musste sich von ihren Kolleginnen Geld für die Behandlung borgen. Für die Rückzahlung ging das Einkommen mehrerer Monate drauf.

Einige Mädchen wissen, dass sie bereits HIV-infiziert sind. Doch in ihrer Verzweiflung arbeiten sie unvermindert weiter. So verbreiten sie nicht nur das Virus, sondern verkürzen auch die wenigen ihnen noch verbleibenden Jahre bis zum Ausbruch der Krankheit.

Doch Hunger und Heimatlosigkeit erscheinen den Mädchen bedrohlicher als Aids. In Gesprächen kommen sie schnell auf die brutale, irrationale Gewalt zu sprechen, die sie bei ihrer Arbeit
täglich befürchten müssen. Eine Art Gruppen-Macht gibt ihnen offenbar ein wenig Kraft und Schutz vor dem Missbrauch. „Gemeinsam haben wir beschlossen, nicht mehr zu Männern nach Hause zu gehen“, sagt Jacqueline, 20 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. „Wenn wir erst
dort sind, sind wir den Wünschen unserer Kunden ausgeliefert. Sie haben uns geschlagen, Kondome verweigert und uns sogar Mord angedroht, falls wir nicht tun, was sie wollen“, ergänzt sie. Trotz der Vorsichtsmaßnahme, im Bordell zu bleiben, sind Schläge an der Tagesordnung, und manchmal bleiben gebrochene Arme und Beine zurück.

„Ich habe ein Kind. Deshalb kann ich nicht einfach weglaufen, auch wenn mich ein Mann schlägt“, sagt die 18-jährige Sandra, während sie ihr zwei Monate altes Baby stillt. Angelique war als Hausmädchen beschäftigt, als sie von einem Freund der Familie, für die sie arbeitet, schwanger wurde. Während der Mann Kigali umgehend für eine Geschäftsreise verlies, verlor Angelique ihren Job und ihr Zuhause. „Noch während meiner Schwangerschaft begann ich, als Prostituierte zu
arbeiten. Wie sonst wäre ich zu Geld gekommen, um mein Baby und mich zu ernähren und unsere Miete zu zahlen?“

Traurig blickt Angelique auf ihre kleine Tochter. „Es ist schwer zu beschreiben, wie hart dieser Job ist. Ich habe schreckliche Angst, mich mit dem HI-Virus zu infizieren. Und ich hasse die Männer, die
uns schlagen.“

Immer wieder suchen die Mädchen nach Alternativen. Sehnsüchtig sprechen sie von ihrem Traum, in die Schule zurückzukehren und ihren Abschluss nachzuholen. Sie alle haben Geschäftsideen: Kleider wollen sie verkaufen, Gemüse oder Kohle – alles, nur nicht sich selbst. Doch sie wissen, dass diese Träume mit dem Tod ihrer Eltern gestorben sind.

In den letzen zwei Jahren hat das christliche Hilfswerk World Vision mehr als 200 kindgeführten Haushalten in Kigali eine Berufsausbildung als Schneider, Handwerker, Klempner oder Friseuse
ermöglicht und damit vielen Aidswaisen einen Ausweg aus ihrer scheinbar hoffnungslosen Situation eröffnet. Begleitend dazu bieten Sozialarbeiter Beratungs- und Betreuungsdienste an.

Der Mehrzahl der Kinder jedoch bleibt diese Möglichkeit noch immer verwehrt. In ihrer Verzweiflung wenden sie sich anderen Formen des Broterwerbs zu. „Ich bin Prostituierte, um zu überleben,“ sagt Claudine. „Doch wenn ich weiter als Prostituierte arbeite, werde ich irgendwann an Aids sterben.“

Claudine weiß: Aus eigener Kraft wird sie keinen Ausweg aus ihrer Situation finden. Deshalb hofft sie auf die Hilfe anderer Menschen. Menschen mit einem guten Herz, die ihr und ihren Kolleginnen helfen, ein neues Leben aufzubauen. „Dann können diejenigen, die nicht bereits mit dem tödlichen Virus infiziert sind, überleben. Und diejenigen, die schon krank sind, können länger am Leben bleiben.“

dumela.net dankt Alison Preston von der Hilfsorganisation World Vision, die diese Reportage geschrieben hat.